Heute: Ideales Nritta-Training
Der bewusste Umgang mit dem Körper im Tanz ist ein Thema, das mich immer wieder beschäftigt. In letzter Zeit beschäftige ich mich intensiv mit Bewegungspädagogik und Körpertraining. Dabei ist das Gefühl für den bewegenden Körper und der Grad, wie tief dieses Körpergefühl im Tänzer eingearbeitet ist, ein wiederkehrendes zentrales Thema. Ich spreche bewusst von «einarbeiten», denn ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass sich dieses Körpergefühl mit den richtigen Methoden durchaus anlernen und verstärken lässt. Ohne dieses Körpergefühl versprüht der Tanz kein Esprit, ohne dieses Körpergefühl wirkt die Tänzerin nicht authentisch und im Endeffekt ausdruckslos.
Ich bin in meiner Lehrtätigkeit immer wieder erstaunt, dass es durchaus Schüler gibt, die trotz langjährigem Training fehlendes Gespür für ihren Körperausdruck zeigen. Bei talentierten Tänzerinnen kann man beobachten, dass dieser fehlende Zugang durch übermässige Körperkontrolle kompensiert wird. Ihr Tanz wirk hart und ernst. Das kann zu schlimmen Verspannungen und auch Überlastungen in Gelenken und Muskeln führen. Bei weniger talentierten Schülern macht sich die Überforderung bemerkbar, durch die dann der Tanz zu einer Art Gymnastikübung verkommt.
Die Ursache liegt in beiden Fällen im System, wie Bharata Natyam unterrichtet wird. Jeder akademische Tanz suggeriert dem Schüler, dass Körperkontrolle und die Perfektionierung einer einwandfreien Körperkoordination zum erwünschten Körperausdruck führt. Das ist ein Trugschluss. Um einen Körperausdruck zu haben, muss unsere Wahrnehmung des Körpers sensibilisiert werden. Wie wir unseren Körper fühlen und was wir in einer bestimmten Bewegung wahrnehmen kann aber nur in einer regelmässigen Körperarbeit erforscht werden, die frei ist vom Druck und vom ästhetischen Anspruch einer Tanzbewegung. Ist unser Bewusstsein für den bewegenden Körper einmal geschaffen, können wir es in die anspruchsvolle Tanzbewegung integrieren. Und erst da entfaltet sich dann der endgültige Körperausdruck.
Bharata Natyam besteht zur Hälfte aus Nritta, aus dem sogenannt „reinen“ Tanz. „Rein“ bezeichnet hier keine innere Qualität des Tanzes, sondern lediglich die Tatsache, dass dieser Teil des Tanzvokabulars keinen erzählenden Charakter hat. Nritta ist pure Tanztechnik, in all der Vielfalt, die das Bharata Natyam bietet. Nritta lässt sich über drei Akzente definieren, die dominant sind:
- Der Akzent der Fussarbeit bzw. des Rhythmus
- Der Akzent der Zielhaltung
- Der Akzent des Timings und der Koordination
Dem Nritta liegt ausserdem ein tänzerischer Ökonomie-Gedanke zugrunde: Jede Tanzbewegung soll so effizient wie möglich durchgeführt werden. Das heisst so viel Körperausdruck wie möglich mit so wenig Energieverbrauch wie nötig.
Diese Nritta-Akzente und der Gedanke der Bewegungseffizienz muss jeder Bharata-Natyam-Schüler kennen, um im Training zielgerichtet arbeiten zu können. Doch dieses Training kann nur in einem zweiten Teil aus Tanzbewegungen bestehen. In einem ersten Schritt muss das Fernziel «Körperausdruck im Nritta» durch massgeschneiderte Übungen erarbeitet werden, die genau die oben genannten Akzente als Nahziel beinhalten.
Fussarbeit und Rhythmik: Für eine einwandfreie Fussarbeit muss das Bein in seiner Flexibilität, Mobilität, Kraft und Koordinationsfähigkeit trainiert werden. Diese Arbeit beginnt mit Grundlagen wie mit der Mobilisation des Hüftgelenks und verschiedenen Übungen, die die einzelne Muskelgruppen im gesamten Bein stärken. Dem Fuss, dem eigentlich wichtigsten Körperteil einer Bharata-Natyam-Tänzerin, kommt in der traditionellen Lehrweise erschreckend wenig Aufmerksamkeit zu. Es gibt praktisch keine Grundschritte im Bharata Natyam, die das Sprunggelenk gezielt trainieren. Diese Lücke muss mit entsprechenden Übungen gefüllt werden, damit der Fuss den Belastungen des Tanzes standhalten kann.
Zielhaltung: Bharata Natyam ist ein Haltungstanz. Der Hauptakzent liegt in diesem Tanzstil nicht in der Bewegung, sondern in der Haltung, die man nach Ablaufen der Bewegung einnimmt. Diese Zielhaltungen hängen unmittelbar von der Rhythmik (Akzent 1) und der Körperkoordination (Akzent 3) der Tänzerin ab. Sie muss daher Haltungen präzise auf den Punkt einnehmen können. Diese Präzision erreicht man nur mit einem optimal vorbereiteten Körper, der kräftig und geschmeidig genug ist, um sich schnell und fliessend zu bewegen. Zur Vorbereitung braucht es hier daher tanzbezogene Übungen, die der Schülerin helfen die Tanzbewegungen zu visualisieren, falsche Spannungen abzubauen und diejenigen Grundlagen zu trainieren, die im Tanz in jeder Bewegung Verantwortung tragen: Atem, Beckenboden, Rücken- und Bauchmuskeln.
Timing und Koordination: Das Timing und die Körperkoordination haben einen direkten Effekt auf den Körperausdruck der Tänzerin. Verpasst eine Tänzerin den richtigen Moment oder hadert sie mit Armen und Beinen, so ist der Zauber ihrer Bewegung sofort verloren. Timing und Körperkoordination sind es daher auch, die die meisten Probleme schaffen und zu grossem Frust führen können. Anwendungsbezogene Übungen, die helfen Bewegungsabläufe zu internalisieren, nützen nicht nur der Tanztechnik, sondern helfen auch spätere Probleme im Tanz leichter zu lokalisieren und zu analysieren. Das Ergebnis dieser Arbeit ist eine genauere Technik, präzisere Bewegungen und entspannterere Tänzer.
Neben dieser Körperarbeit, wird ein ideales Nritta-Training von leichten Kardio-Übungen, Atem-Übungen, sowie gezieltem Dehnen und einer kurzen Meditation oder Achtsamkeits-Übung ergänzt.
Ein solches zielgerichtetes Nritta-Training führt – davon bin ich absolut überzeugt – zu einem Tanzunterricht mit der maximalen Befriedigung von Schüler und Lehrer, einem hohen Grad an körperlichem Wohlbefinden (nicht zuletzt auch aufgrund einer geringeren Verletzungsgefahr) und zu guter Letzt zu einem entspannten, ausgeglichenen und ästhetischen Körperausdruck.