Es gibt in der Art und Weise, wie wir Bharata Natyam ausüben und unterrichten einige Missstände, die man ansprechen und überdenken muss. Ein ganz Wesentlicher davon ist die Berücksichtigung anatomischer und kinetischer Gesetzmässigkeiten unseres Körpers. Oft sind die Lösungen zu diesen Problemen ganz einfach und lassen sich unkompliziert in die bestehende Unterrichtsweise integrieren. Umso überraschter bin ich immer wieder, wie stark ich diese Notwendigkeit im Gespräch mit anderen Tänzerinnen manchmal betonen muss. Es ist für die Zukunft des indischen Tanzes wichtig, dass wir unsere Verantwortung im Umgang mit dem Körper wahrnehmen und den Anspruch haben, unsere Methoden zu verbessern. Mit meinen Blogs zur Tanzmedizin möchte ich aktiven Bharata Natyam-Tänzerinnen und –Lehrerinnen diesbezüglich einen Denkanstoss geben.
In meinem heutigen Blog möchte ich als Einleitung zu diesem Thema erzählen, warum die Tanzmedizin eine meiner Herzensangelegenheiten ist. Das Interesse an Tanzmedizin und meine Überzeugung, welchen Nutzen wir Bharata Natyam-Tänzerinnen daraus schöpfen können, ist in meinem Fall tief verwurzelt in meinem Werdegang als Tänzerin.
Ich begann meine Karriere als eine Art Kindertalent, gab Radio- und Zeitungsinterviews, unterrichtete andere Kinder in Workshops und machte viele Solo-Auftritte. Mit der Tanztruppe meiner Mutter und als ihre Bühnenpartnerin bereiste ich ganz Europa. Die Resonanz auf uns als Mutter-Tochter-Duo war gross. Bevor ich eine innere künstlerische Reife hatte bekam ich Preise von Leuten, die keine Ahnung hatten, wer ich bin oder was ich kann. Mich erreichte nur das Lob, die Kritik, die es bestimmt gab, drang nicht bis zu mir durch. Diese Erlebnisse liessen mich lange in der Überzeugung leben, dass meine Qualität als Tänzerin am Ausmass der Reaktionen meiner Umwelt auf mich gemessen werden kann. Und demnach war ich also gut. Ich lebte ein ziemlich unbekümmertes und zufriedenes Tänzerinnen-Dasein.
Meine ersten Knieprobleme tauchten in den Jahren vor meiner Volljährigkeit auf. Physiotherapeuten trugen mir auf, meine Beinmuskulatur zu stärken, um meine Kniescheibe zu stabilisieren, aber das half nichts. Ich pausierte fast ein Jahr, teils auf Frust und teils aus Überforderung, weil ich nicht wusste, was ich tun soll. Als ich 19 Jahre alt war, gingen wir auf grosse Tanztournee. Inzwischen war ich nicht mehr der Kinderstar, aber ich hatte eine ansehnliche Erscheinung und das war mein neues Kapital. Einen unserer Auftritte sah auch Prof. C. V. Chandrashekar, ein renommierter Bharata Natyam-Tänzer und –Lehrer. Es war das erste Mal, dass ich von einer aussenstehenden, kompetenten Person mit Kritik, oder besser gesagt, mit Zurückhaltung von Lob konfrontiert wurde. Ich kam ins Grübeln und zum ersten Mal hinterfragte ich meine Leistung ernsthaft. Die Knie-Probleme nahmen derweil kein Ende. Meinen ersten Termin bei Dr. Christian Larsen in der Bethanien Klinik in Zürich hatte ich am 31. August 2000. Er fand schnell die Ursachen und hatte hilfreiche Therapievorschläge für meine Schmerzen. Alles was er sagte klang sehr einleuchtend. Aber das Tanzen funktionierte irgendwie und Dr. Larsens klugen Worte waren schnell vergessen.* Ziemlich genau ein Jahr später prophezeite mir eine Physiotherapeutin in Mumbai, dass meine professionelle Tanzkarriere aufgrund meiner körperlichen Probleme in wenigen Jahren beendet sein werde. Das ist eine Prognose, die jede 20-jährige Tänzerin in pure Verzweiflung stürzen lässt.
Was darauf folgte waren lange Jahre der Suche. Einerseits der Suche nach Heilung, andererseits der Suche nach echter und ehrlicher Anerkennung. Mir wurde langsam klar, dass ich meine tänzerischen Fähigkeiten an den falschen Parametern gemessen hatte. Langsam entwickelte sich ein gesunder, zielgerichteter Ehrgeiz. Doch dieser wurde immer wieder durch meine körperlichen Limitierungen ausgebremst. Es dauerte weitere sechs Jahre, nach einer völlig sinnlosen und ergebnislosen Arthroskopie und nach vielen Besuchen bei verschiedensten Sportmedizinern, bis ich meinen Weg wieder zu Dr. Larsen und seinen klugen Worten fand. Ich begann mit Physiotherapien, zuerst für meine Füsse, dann für mein Becken und danach für den Nacken. Das ist nun fast zehn Jahre her. Ich tanze seither schmerzfrei und habe meine Karriere keineswegs beendet. Und ich habe durch meinen Ehrgeiz genau die Qualität als Tänzerin erreicht, die ich immer angestrebt habe.
Rückblickend waren in meinem Fall meine körperlichen Beschwerden ein Glück im Unglück. An einem Punkt, als meine Verzweiflung besonders gross war, hielt ich Zwiesprache mit meinem Knie. Ich nahm mir vor, mein Knie fortan nicht mehr als Feind, sondern als Freund zu betrachten. Zusammen hatten wir ein gemeinsames Ziel. Ich wollte meinem Knie ein Leben ohne Schmerz ermöglichen und forderte dafür, dass es mir half, meinen tänzerischen Ehrgeiz umzusetzen. Wenn man als Kind im Tanz ausgebildet wird, erkennt man oft (zu) spät, welchen Einfluss es hat, seinen Körper bewusst wahrzunehmen. Meist ist der Körper geschmeidig, er macht die Bewegungen mit, die man von ihm fordert und solange es funktioniert, ist er nicht mehr, als ein Mittel zum Zweck. Und dort liegt genau die Gefahr. Doch mit der richtigen Prävention im richtigen Alter, kann es ein gesundes Tanzen geben, auch auf hohem Niveau.
Ich frage mich oft, wie viele Tänzerinnen da draussen Ähnliches wie ich erlebt haben. Ich begegnete schon vielen jungen Frauen, die unter Schmerzen getanzt und ihren Körper geschunden haben, um dann doch irgendwann ihre Liebe zum Tanz aufzugeben – wie viel verlorenes Potenzial, wie viele nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten! Muss das denn sein?
Nun, nachdem ich mich mehrere Jahre in der Praxis mit diesem Thema beschäftigt habe, und durch meine Weiterbildung mich nun auch in der Theorie besser auskenne, erkenne ich all die Lücken in unserem Tanzsystem. Wie vielen Kindern wird ein Ardha-Mandali (vergleichbar mit dem Plié im Ballett) eingetrichtert, ohne dass die Voraussetzungen ihrer Hüftgelenke und dem möglichen Aussenrotationsradius ihres Oberschenkels bekannt sind? Wie viele Hohlkreuze werden übersehen, weil der Beckenaufrichtung und dem lumbosakralen Übergang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird? Wie stark werden die Gelenke anfangs überbelastet, weil man keine entsprechenden aufbauenden Massnahmen der Beinmuskulatur ergreift, sondern sich alleine durch Tanzschritte den nötigen Körperaufbau erhofft? Ich könnte keine Minute mehr einen Schüler mit gutem Gewissen unterrichten, hätte ich mir in der Zwischenzeit nicht all dieses Hintergrundwissen angeeignet. Falls es da draussen indische Tänzerinnen gibt, die es mir gleichtun – Bravo! Für alle anderen, lest meinen Blog und überdenkt Eure Art und Weise, wie ihr mit dem Körper im Tanz umgeht.
*Ein weiterer Grund, warum ich Dr. Larsens Therapie-Vorschläge nicht schon im Jahr 2000 umsetzte, war die schlechte Krankenkassen-Anerkennung der Spiraldynamik®-Physiotherapie. Bis heute zahlt man als Patient deutlich mehr, wenn man eine Spiraldynamik®-Physio in Anspruch nimmt, statt einer „normalen“. Die Rechnung geht überhaupt nicht auf, denn ich habe dem Schweizerischen Gesundheitswesen aufgrund meiner Ärzte-Odyssee immense Kosten beschert, die alle gespart hätten werden können, wenn ich nicht von Anfang die finanzielle Hürde der Spiraldynamik®-Therapie gehabt hätte. Falls dies ein Zuständiger der Schweizer Krankenkassen liest, dann wäre ich dankbar, wenn dieser Umstand mal näher angeschaut werden könnte.