Am 20. Juli 2018 ist einer der grossen Mridangam-Künstler der klassischen südindischen Musik gestorben. B. K. Chandramouli war Mitglied einer grossartigen Künstlerfamilie und ein Meister seines Fachs.
Mitte der 1980er Jahre kam B. K. Chandramouli erstmals in die Schweiz, im Rahmen einer Einladung meiner Mutter Vijaya Rao und ihrer indischen Tanzschule Nateschwara. Die Bekanntschaft zwischen ihr und Chandramouli war über die Jahre von einer guten Freundschaft geprägt. So wurde er für mich zur Vaterfigur und einem liebevollen Lehrer, den ich unglaublich schätze.
Chandramouli war zwar ein Musiker der alten Garde, einer Künstler-Generation die sich mit Herzblut der Kunst und der Tradition verschrieb. Aber gleichzeitig war er voller Innovationen. Er war ein linkshändiger Mridangist. Diesen Umstand nutzte er zu seinem Vorteil. Das war zu seiner Zeit keineswegs üblich, denn linkshändige Mridangam-Spieler wurden in der Regel umgewöhnt rechts zu spielen. Doch Chandramoulis kraftvoller linkshändiger Paukenschlag wurde über die Jahre berühmt und zu seinem Markenzeichen.
Auch die Rhythmussprache Konnakol, die bis anhin als ein Beiprodukt des Mridangamspiels galt, baute Chandramouli zu einer eigenen Disziplin aus. Seine Konnakol-Demonstrationen gehörten zu den eindrücklichsten ihrer Art. Er hatte eine wunderbar akzentuierte Aussprache im Konnakol und „perkussionierte“ sozusagen mit seinem Mund. Heute würde man es eine Art karnatisches beat-boxing nennen. Er war darin unglaublich virtuos.
Chandramouli hätte ohne Problem eine prestigeträchtige Karriere als Konzert-Musiker einschlagen können. Seine Reputation war schon in frühen Jahren so gross, dass namhafte Solo-Künstler mit ihm spielen wollten. Dies verdankte er auch seiner Mutter Rajamma Keshavamurthy, ihrerseits eine renommierte klassische Sängerin. Sie förderte ihren Sohn entsprechend. Doch Chandramouli gehörte nicht zu den Musikern, die nach Ansehen und Prestige entschieden. Er prüfte sein Gegenüber bezüglich seiner Hingabe zur Kunst und dessen Können und liess sich davon leiten. Ob das als Begleitmusiker für eine Tänzerin war, oder für einen berühmten Sänger, spielte dabei nur eine sekundäre Rolle.
Dass ein Mridangist sowohl für Tanz als auch für ein Musikkonzert spielen kann, ist keineswegs selbstverständlich. Kein Musiker, der mir bisher begegnet ist, konnte so formvollendet sowohl die Akzente für die Tanzschritte einer Tänzerin setzen, als auch die Phrasen eines klassischen Gesangsstücks begleiten. Chandramouli fügte sich in Tanzaufführungen problemlos in den Hintergrund, und überragte am Ende doch das ganze Ensemble. In Musikkonzerten umgarnte er das Publikum gekonnt mit seinem Charme, so dass man sein Solo gar nicht mehr abwarten konnte. Seine Vielseitigkeit zeigte Mal um Mal, welch grosser Künstler er war.
1991 feierte die Schweiz ihr 700-iges Bestehen mit grossen Festivals in verschiedenen Städten. In Baden stand unter der Hohen Brücke eine grosse Kulturbühne. Unter anderem präsentierte Chandramouli hier ein fulminantes Mridangam-Solo. Ich sass als 10-jährige neben ihm und hatte die grosse Aufgabe, sein Spiel mit meinem Taktschlag zu begleiten. Eine riesige Herausforderung, denn Chandramouli war ein guter Mathematiker und liebte es, Rhythmen endlos ineinander zu verschachteln, um sie danach mit einem riesigen Paukenschlag wieder aufzulösen. Dabei im Takt zu bleiben und sich nicht zu verzählen war eine Mammutaufgabe. Ich erinnere mich nicht mehr an die Aufführung, aber Chandramouli erwähnte diesen Auftritt jedes Mal, wenn wir uns wiedersahen. Ich sei kein einziges Mal aus dem Takt gefallen, lobte er stets, und klopfte mir dabei jedes Mal auf die Schulter, als wäre es stolz auf sein eigenes Kind.
Als Tänzerin verband uns eine Chemie, die einfach stimmte. Sein Spiel und mein Tanz fügten sich völlig mühelos zusammen. Ich war daher sehr betrübt, als nicht Chandramouli der begleitende Mridangam-Spieler bei meinem Bühnendebüt 1992 war. Doch ich hatte glücklicherweise noch einige Male die Gelegenheit, in Tourneen mit ihm zusammen aufzutreten. Die letzte Tournee mit ihm war für mich die wohl Wichtigste, denn es war mein eigenes Solo-Programm, von mir selbst zusammengestellt und organisiert. Chandramoulis Anerkennung für dieses künstlerische Projekt zeigte sich dann ein Jahr später, als er mich einlud an einem Tanz- und Musikfestival in der Nähe von Bangalore aufzutreten. Er begegnete mir immer noch mit väterlicher Autorität, aber gleichzeitig als Künstler auf Augenhöhe. Eine Anerkennung, die mich bis heute sehr berührt.
Chandramouli war nicht nur ein Meister seines Fachs, sondern auch ungewöhnlich gut informiert über die historischen Entwicklungen der südindischen Perkussion. In Gesprächen mit ihm zu meiner Dissertation realisierte ich einmal mehr, wie gross sein Fachwissen war. Trotz all dem blieb er bescheiden, lehrte in diesen letzten Jahren in seiner eigenen Musikschule, engagierte sich in zahlreichen Musikvereinen und organisierte viele Konzerte.
Trotz seiner traditionellen Herkunft und seinem Festhalten an der klassischen Musik, brachte Chandramouli in seinem Sohn Manjunath einen weltoffenen und unkonventionellen Mridangisten hervor. Vermutlich war es sein innovativer Geist, dem es zu verdanken ist, dass auch sein Sohn die Grenzen des Mridangam-Spiels immer wieder neu definiert. Manjunath, der seinerseits ein unglaublich begabter Mridangist und Konnakol-Künstler ist, ist mittlerweile ein international gefragter Musiker, der schon mit Musikgrössen aus allen Genres zusammengearbeitet hat.
Wenn ich an Chandramouli-Sir zurückdenke, dann sehe ich sein herzhaftes Lachen, mit dem er alle um sich herum anstecken konnte. Ich bin dankbar, für alles Lehrreiche, das er mir geschenkt hat.